DIE RÜCKKEHR DER RETTUNGSSCHIFFE
04.06.2020
Chris Grodotzki ist festes Mitglied des Medienteams von Sea-Watch. Für die aktuelle Ausgabe der Weltkulturen News beschreibt er, wie die zivile Seenotrettung im Mittelmeer von der humanitären Intervention zur Widerstandsbewegung wurde.
„Piraterie im frühen achtzehnten Jahrhundert war im Grunde ein Kampf für das Leben, gegen den sozial organisierten Tod.“[1] Diese Definition der Piraterie aus Markus Redikers „Villains of all Nations“ wird dem damaligen italienischen Innenminister Matteo Salvini wohl kaum durch den Kopf gegangen sein, als er im Juni 2019, angesichts der Rettung von 52 Menschen durch die Crew der Sea-Watch 3, proklamierte: „ein weiterer Akt der Piraterie durch eine geächtete Organisation“. Und doch tobt auf dem Mittelmeer seit mittlerweile fünf Jahren ein ebensolcher Kampf: Die Staaten Europas haben an ihrer gemeinsamen Außengrenze eine Zone erschaffen, in der alle durch die EU proklamierten Werte, ihre Bürger*innen- und Menschenrechte suspendiert sind. Ein Ausnahmezustand, der das Meer zur Waffe degradiert, Menschen zur Verhandlungsmasse – und die fluide Südgrenze des europäischen Kontinents zur tödlichsten Migrationsroute der Welt macht.[2]
Leben, die verloren gehen
Die europäischen Aktivist*innen von Sea-Watch und anderen Rettungsorganisationen, die sich dem widersetzen, sind keine Pirat*innen im historischen, legalen oder ideellen Sinne: Die historische Piraterie war, nach Rediker, ein (Klassen-)Kampf um das eigene Leben, der blanken Trotz dem Tode gegenüber voraussetzte. Die zivile Seenotrettung im Mittelmeer ist in erster Linie ein solidarischer Kampf, aus der privilegierten Position heraus, dass es eben nicht das eigene Leben ist, welches zur Disposition steht. Es sind die Leben der Anderen – also derer, die durch nationalstaatliche Logik aus dem europäischen Wir ausgeschlossen sind –, die zehntausendfach in der Sahara und auf dem Mittelmeer verloren gehen, die in libyschen Internierungslagern vor sich hin vegetieren und für deren Rückverschleppung von hoher See die EU eine sogenannte Libysche Küstenwache mit Millionenbeträgen bezahlt.
Ein Akt gedanklicher Piraterie
„Ich brauche mir fremde Probleme, Sorgen und Unterdrückung nicht anzueignen“, erklärte Pia Klemp, eine der Kapitäninnen der zivilen Seenotrettungsflotte, der in Italien ein Prozess wegen Beihilfe zur illegalen Einreise droht: „Solidarität bedeutet zu erkennen, dass diese Probleme schon von Anfang an meine eigenen sind. Egal, ob sie Auswirkungen auf mein tägliches Leben haben oder nicht.“ Vielleicht ist es genau diese Idee, die eine Konstruktion des Anderen und damit die Ignoranz gegenüber dessen Leid ausschließt und damit in der momentanen Mentalität der EU einen Akt gedanklicher Piraterie darstellt.
Der politische Wind dreht
Seit die MS Sea-Watch 2015 in See stach, um diese Idee zu vertreten und dem Sterben an der Außengrenze etwas entgegenzusetzen, hat sich jedenfalls einiges getan: 2015 und 2016 in der Zivilgesellschaft gefeiert und von den staatlichen Stellen in das offizielle Such- und Rettungsnetzwerk eingebunden, drehte der politische Wind im zentralen Mittelmeer schnell. Im ersten Halbjahr 2017 begannen Schlüsselpersonen der europäischen Politik die Behauptung zu etablieren, die zivilen Retter*innen arbeiteten auf die eine oder andere Weise mit den Menschenschmugglern in Libyen zusammen. Gestützt auf „Arbeitshypothesen“ des sizilianischen Staatsanwaltes Carmelo Zuccaro verkündete beispielsweise der damalige österreichische Außenminister Sebastian Kurz, der „NGO-Wahnsinn“ müsse beendet werden. Auch der damalige deutsche Innenminister Thomas de Maizière übernahm die unbelegten Behauptungen Zuccaros, „dass die Schiffe in libysche Gewässer fahren und vor dem Strand ihre Positionslichter einschalten“ würden. Was er nicht übernahm, war Zuccaros weitere (und in der konservativen politischen Mitte womöglich unpopulärere) Arbeitshypothese, „dass manche Hilfsorganisationen Migranten nach Italien bringen wollen, um die Wirtschaft zu schwächen“.
Aus der humanitären Intervention wird eine Widerstandsbewegung
Parallel zur öffentlichkeitswirksamen Kampagne an Land zogen sich die staatlichen Militär- und Polizeioperationen aus dem Suchgebiet vor der libyschen Küste zurück, um, wie Paolo Cuttitta im Border Criminologies Blog der Universität Oxford darlegt, „der libyschen Küstenwache Raum zu geben, Migrant*innen zurück zu verschleppen, sowie NGO-Schiffe zu vertreiben und einzuschüchtern.“[3] Im Sommer 2017 wurde schließlich das Rettungsschiff Iuventa des Vereins Jugend Rettet in Italien beschlagnahmt. Mehrere humanitäre Organisationen stellten daraufhin ihr Engagement im Mittelmeer ein. Als ein knappes Jahr später, im Juni 2018, die Regierungskoalition aus 5-Sterne-Bewegung und Lega in Italien an die Macht kam und der rechtsradikale Innenminister Matteo Salvini verkündete, die Häfen des Landes zu schließen, schien das Ende der zivilen Seenotrettung nahe. Auch das sozialdemokratisch regierte Malta, das den NGOs lange als Operationsbasis gedient hatte, schloss in der Folge seinen Hafen, nur umgekehrt: Es ließ die Rettungsschiffe Lifeline, Seefuchs und Sea-Watch 3 über Monate nicht mehr auslaufen.
Doch aus der humanitären Intervention wurde eine Widerstandsbewegung: Die verbleibenden aktiven Rettungsorganisationen – Sea-Watch (DE), Mediterranea (IT), Open Arms (ES) und Sea-Eye (DE) – ließen sich weder von wochenlangen Stand-Offs[4] noch von den regelmäßig danach blühenden Beschlagnahmungs-Perioden abschrecken. Auch auf ein Minimum an Schiffen dezimiert und jeglicher Effizienz im Einsatz beraubt, führte die von manchen Aktivist*innen „No Borders Navy“ getaufte zivile Rettungsflotte ihren Kampf gegen Windmühlen unbeirrt fort: Jedes Leben, das auf See in Gefahr ist, muss gerettet und an einem sicheren Ort an Land gebracht werden. „Punto!“, wie Matteo Salvini sagen würde.
„In Zivilisationen ohne Schiffe versiegen die Träume“
In seinem Essay „Of Other Spaces“ beschreibt Michel Foucault das Schiff als „die größte Reserve der Vorstellungskraft.“[5] Die zivile Seenotrettung hat dieses geistige Potenzial des Schiffes nutzbar gemacht und gegen die tödliche Tristesse einer Festung Europa in Stellung gebracht. Sie hat ihre Schiffe als Vehikel nicht nur für Menschen, sondern für die Idee eines solidarischen, offenen Europa bereitgestellt – und das wurde dankbar angenommen. So schreiben die Politikwissenschaftler Beppe Caccia und Sandro Mezzadra der italienischen Seenotrettungsorganisation Mediterranea: „Unser Schiff wurde von einer Vielzahl von Standpunkten angeeignet und irgendwie neu erfunden. Sie reichen von besetzten sozialen Zentren bis hin zu Kirchengemeinden, Universitäten und Schulen, von Kleinstadtkreisen bis hin zu Großstadt-Versammlungen.“[6]
Die Schiffe, ihre Crews und Kapitän*innen zeichnen ein Bild, das die Probleme der Anderen zu unseren macht. Gleichzeitig werden damit aber auch die Lösungen zu Lösungen für uns. Matteo Salvinis wiederholte Forderung nach „Beschlagnahmung des Piratenschiffes“ unterstreicht daher nur die Foucaultsche Erkenntnis: „In Zivilisationen ohne Schiffe versiegen die Träume, Spionage ersetzt das Abenteuer und die Polizei die Piraten“ [7].
Biografie
Chris Grodotzki fotografiert, schreibt und spricht. Er studierte Fotojournalismus in Hannover und Aarhus und wurde für seine journalistische Arbeit zu Umweltkonflikten und Migrationsbewegungen mehrfach ausgezeichnet. In den Berliner Kollektiven jib und Peng! beteiligte er sich an zahlreichen Reportage-Projekten und aktionskünstlerischen Interventionen. Dem Bundeskriminalamt ist Grodotzki „als Angehöriger der deutschen linksextremistischen Szene und Umweltaktivist bekannt“ und darf deshalb nicht über weltpolitische Gipfeltreffen berichten. Stattdessen unterstützt er Sea-Watch und war über die letzten Jahre festes Mitglied des Medienteams der Organisation.
[1] Markus Rediker (2004): Villains of all Nations. Atlantic Pirates in the Golden Age. Boston 2004, S. 153f.
[2] Vgl. Philippe Fargues (2017): Four Decades of Cross-Mediterranean Undocumented Migration to Europe. A Review of the Evidence. Geneva: International Organization for Migration 2017, S. 1.
[3] Paolo Cuttitta: Pushing Migrants Back to Libya, Persecuting Rescue NGOs: The End of the Humanitarian Turn (Part I), in: Oxford University Faculty of Law Border Criminologies Blog, 19.04.2018, https://www.law.ox.ac.uk/ (Abruf: 10.12.2019).
[4] Stand-Off: Blockade-Situation, in der einem Schiff mit Geretteten an Bord das Einlaufen in die nächstgelegenen sicheren Häfen von staatlicher Seite verweigert wird.
[5] Michel Foucault(1967): Of Other Spaces: Utopias andHeterotopias. Verfügbar auf: https://foucault.info, (eigene Übersetzung, Abruf: 29.01.2020), S. 9.
[6] Sandro Mezzadra & Beppe Caccia (2018): What can a ship do? In: EuroNomade, 08.10.2018, (eigene Übersetzung) http://euronomade.info/ (Abruf: 31.12.2019).
[7] Foucault: Of Other Spaces, ebd.
SW5Y - Fünf Jahre zivile Seenotrettung
5. Juni bis 30. August 2020
Die Kooperation von Sea-Watch e.V. und dem Weltkulturen Museum präsentiert in Fotografie und Zeichnung Eindrücke, Menschen und Momente aus fünf Jahren ziviler Seenotrettung an der tödlichsten Grenze der Welt – dem Mittelmeer.