KRISE, TRANSFORMATION UND HEALING
Krise, Transformation und healing
Die Kuratorinnen Mona Suhrbier und Alice Pawlik über die Entstehung der Ausstellung „healing. Leben im Gleichgewicht“
WELTKULTUREN NEWS: Ihr bereitet gerade die Ausstellung „healing. Leben im Gleichgewicht“ vor, wie seid Ihr auf den Themenkomplex zu dieser Ausstellung gekommen?
ALICE PAWLIK: Wir hatten unabhängig voneinander die Idee zu einer Ausstellung, die sich mit dem Themenkomplex healing, dem Wunsch nach Ganzheit und dem Wiederherstellen eines Gleichgewichts beschäftigt. Wir haben beobachtet, dass viele Menschen nach etwas suchen, was sie selbst nicht fassen oder nicht beschreiben können.
MONA SUHRBIER: Genau. Mein Eindruck war, dass in Social Media der Begriff healing oft verwendet wird: Bei Indigenen Gruppen, bei Künstler*innen, bei Klimaaktivist*innen. Mir sind immer wieder Wortpaare begegnet: zum Beispiel „Krise und healing“, „Trauma und healing“ oder „Zerstörung und healing“. Es wurde deutlich: Irgendetwas stimmt nicht. Unser Planet braucht ein healing. Ich habe dann zu den verschiedenen Traumata geforscht: zu körperlichen, zu emotionalen, zu den Traumata in der Umwelt, in der Geschichte und innerhalb von Indigenen Gesellschaften. 2019 war ich dann auf der Konferenz „Healing the Divide“ der Association on American Indian Affairs in Phoenix, bei der es um Repatriierung und die Rückkehr von human remains ging, um so ein healing kolonialer Wunden herbeizuführen. Anschließend habe ich mich informiert, wer eigentlich healings durchführt, und das sind Künstler*innen, Indigene und Aktivist*innen.
AP: Und dann kam die Pandemie und hat unseren Blick nochmal geschärft: Wir befinden uns in einer globalen Krise, die uns alle betrifft. Die Fragilität des Lebens wurde uns noch mehr bewusst und die Frage, wie wir mit Krisen umgehen sollen und welche gemeinsame Verantwortung wir haben. Da war uns klar, dass wir diese Ausstellung umsetzen müssen.
WKN: Welche Themen stecken für Euch als Ethnologinnen im Begriff healing?
AP: Ganz allgemein gesprochen ist die Ethnologie eine Wissenschaft, die die Vielfalt menschlicher Lebensweisen betrachtet. Die kulturellen Praktiken, Lebens- Handlungs- und Vorstellungswelten stehen auch noch in sozialen, politischen, ökonomischen und religiösen oder spirituellen Zusammenhängen. Healing als Prozess, als kulturelle und auch individuelle Praxis betrifft all jene Bereiche. Es geht um das Wahrnehmen und Erklären von Bedeutungszusammenhängen. Für mich persönlich ist die Ethnologie immer auch eine vermittelnde Wissenschaft, die sich besondere Situationen anschaut, wo sie dann auch für neue Strukturen und neue Denkweisen sensibilisiert und damit auch neue Wege aufzeigen kann, wie man Dinge anders oder besser machen kann. Und damit kann die Ethnologie auch einen Themenkomplex wie das Bedürfnis nach einem globalen healing betrachten, analysieren und auch hier einen Umgang mit den durch Gewalt, Rassismus oder Diskriminierung zugefügten Wunden aufzeigen.
MS: Aus der ethnologischen Perspektive habe ich mich gefragt, wer eigentlich die Spezialist*innen für healing sind. Und das sind Schaman*innen, die dazu ausgebildet sind, healing durchzuführen und mit Krisen umzugehen: healing wird also in anderen Kulturen in eine übergreifende, spirituelle weltumfassende Angelegenheit umgewandelt und mit Jenseitswesen verbunden, mit Transformation. In Indigenen Kulturen ist healing auch immer eine Angelegenheit der ganzen Gemeinschaft. Healing bedeutet also nicht nur Heilung, sondern bezeichnet – als Verb – auch den Prozess und das ist das, was wir zeigen wollen: Es sind immer Prozesse, die angefangen werden müssen, wenn Krisen da sind und dann gehen sie ihren Weg.
AP: Genau, auch der soziale Aspekt ist hier wichtig: Man wird mit seiner Heilung nicht allein gelassen. Was in unserer Kultur ja oft anders ist, man steht oft alleine da. Die Einbindung in das große Ganze gibt es hier dann eben nicht – zumindest nicht auf den ersten Blick. Healing bedeutet für uns also nicht nur die Behandlung eines Symptoms, sondern immer einen oszillierenden Prozess zwischen sich und der Umwelt und die Einbeziehung in das große Ganze.
WKN: Stichwort „Prozess“ und „Krise“: Von der Themen- und Titelfindung bis zur fertigen Ausstellung ist es ja nicht immer ein gradliniger Weg, es gibt bestimmt auch Krisen. Seid Ihr bei der Vorbereitung der Ausstellung mit Plänen und Ideen gestartet, die Ihr dann verworfen habt? Oder gab es auch schöne Entdeckungen und Überraschungen während der Ausstellungsentstehung?
AP: Eine große Krise hatten wir bisher noch nicht: Eher Planänderungen, z.B. aus restauratorischen Gründen. Das Ziel, das wir verfolgten, ist aber die ganze Zeit gleichgeblieben: Uns war es immer wichtig, dass die Öffentlichkeit Indigenes Wissen als globales Wissen anerkennt, da es zum Wohlergehen und der Zukunftsfähigkeit unserer Weltgemeinschaft beiträgt. Wir möchten dazu sensibilisieren, dass unsere Denkstrukturen historisch, europäisch geprägt sind. Und diese würden wir gerne durch Indigene Vorstellungswelten anreichern.
MS: Auch die Künstler*innen haben ihre Themen mitreingebracht und so haben wir uns thematisch ziemlich breit aufgestellt. Zum Prozess gehörte auch, dass wir einen Künstler wieder rausgenommen haben, da er über einen langen Zeitraum nicht geantwortet hat und sich dann auch nie wieder gemeldet hat. Wir haben dann eine Alternative gefunden, die uns auch viel besser gefällt als der alte weiße Mann (lacht) – eine junge, südkontinentale Frau!
AP: Die Menschen, die teilnehmen, sind alle unheimlich herzlich. Was wirklich besonders ist. Das hängt bestimmt auch mit der Thematik zusammen. Dadurch sind auch besondere Beziehungen entstanden. Auch zwischen uns als Kuratorinnen. Ich bin seit über zehn Jahren am Museum, aber so nah waren wir uns vorher nicht (lacht). Die Teilnehmer*innen spüren auch eine besondere Verantwortung, das Thema healing in die Öffentlichkeit zu bringen. Und es kommt eine andere Art der Kommunikation und Zusammenarbeit zustande, wie ich sie in anderen Projekten nicht erlebt habe.
v.l.n.r.: Alejandro Duràn, Michael O'Neill, Harry Pinedo, Mona Suhrbier, ALice Pawlik, Marco Del Fiol, Laura Heidemann
WKN: Die Ausstellung präsentiert neben den Objekten aus unserer Sammlung viele Kunstwerke von zeitgenössischen Künstler*innen und aktivistische Arbeiten. Aus welchem Grund war Euch diese Zusammenarbeit für die Ausstellung wichtig und wie habt Ihr die Beteiligten ausgesucht?
MS: Von Anfang an war für uns klar, dass wir nicht für andere sprechen wollen. Das war die Grundlage für alles was passiert: Ein Projekt, das im Dialog entsteht. Unsere Partner*innen haben uns dann auch die Themen in den Topf geworfen. Wir haben drei Fragen entwickelt, die wir allen gestellt haben und die in unserer Publikation nachzulesen sind.
AP: Diese drei Fragen haben viel von dem jeweiligen Gegenüber preisgegeben. Der/die Künstler*in wird nicht nur nach seiner oder ihrer Homepage- oder Instagramseite beurteilt, sondern der Mensch wird durch die Beantwortung der Fragen sichtbar. So ist eben eine persönliche, individuelle Ebene entstanden. Der Begriff healing ist ja unheimlich komplex und bedeutet für jede*n einzelne*n auch immer etwas Anderes. Und die Wege, die dann gegangen werden, sind auch sehr unterschiedlich. Uns war es wichtig, Beteiligte auszuwählen, die aus einer Krise herausarbeiten und da so viele Stimmen wie möglich zu sammeln, um verschiedene Wege aufzuzeigen wie eine Krise bewältigt werden kann. Daher ist eine multiperspektivische Ausstellung eine Selbstverständlichkeit.
MS: Wir haben auch viele Künstler*innen aus der Sammlung, die wir zeigen. Auch welche, die nicht mehr leben, zum Beispiel Feliciano Lana, dessen Werk wir zu einem teilanimierten Film neu konzipiert haben Da er die drei Fragen nicht mehr selbst beantworten kann, präsentieren wir stattdessen eine Indigene und eine wissenschaftliche Perspektive auf Feliciano Lana. Dabei wurde uns wieder bewusst, welche Themen in unserer Sammlung stecken ‑ auch das Thema der kritischen Aufarbeitung kolonialer Verstrickungen. Die Themen müssen nur rausgearbeitet werden, es ist aber alles vorhanden.
Ausstellungsansicht mit dem teilanimierten Film „Der Anfang vor dem Anfang" von Feliciano Lana
AP: Wir erfinden hier ja nicht das Rad neu. Die ganzen Themen liegen auf der Hand: Die Umwelt zu schützen, gegen Gewalt, Diskriminierung und Rassismus zu sein. Das ist ja schon immer präsent. Eigentlich ist es eher traurig, dass man die Themen immer wieder hervorholen und darauf aufmerksam machen muss, dass endlich etwas geschieht.
MS: Die Kompetenz unseres Museums ist es, Indigene Stimmen zu präsentieren. In den Indigenen Gemeinschaften gibt es unheimlich viele Kompetenzen: Für die Umwelt, für die historische Aufarbeitung, für religiöse Heilung. Alle Kompetenzen sind da. Aber das wird hier nicht gesehen oder verstanden oder als „Das ist doch alles noch so ursprünglich“ wahrgenommen. Die Leute halten immer an ihren alten Vorstellungen fest, anstatt sich von einem*r Indigenen Sprecher*in überzeugen zu lassen, der/die ihnen etwas Wichtiges zu sagen hat, dass das auch etwas mit ihnen zu tun hat! Ich denke da an Feliciano Lana, Roldan und Harry Pinedo, die auch in ihren Werken diese Kompetenz ausstrahlen.
WKN: Noch eine vielleicht etwas kritische Frage: Der Grat zwischen Wissenschaft und Esoterik im Bereich healing kann sehr schmal sein. Wie ist Euch dieser Balanceakt gelungen?
MS: Angst vor der Esoterik hatten wir nie! In einem unserer ersten Gespräche haben wir beschlossen, wir wollen keine „Walle, walle“-Esoterik und damit war das Thema vom Tisch.
AP: Ich frage mich, warum es überhaupt einen Balanceakt zwischen Wissenschaft und Esoterik geben soll? Das Wort „Esoterik“ ist aus dem Griechischen und bedeutet „von innen heraus verstehen“. Wenn man die Religionswissenschaften nimmt, dann ist die Esoterik ein Teil davon. Und wenn man es so sieht, dann ist die Esoterik ein Teil der Wissenschaft. Also ist die eigentliche Frage, warum ist die Esoterik im allgemeinen Sprachgebrauch so negativ behaftet? Das hängt wahrscheinlich mit der allgemeinen Annahme zusammen, dass alles, was nicht beweisbar ist, nicht richtig ist. Aber nur, weil etwas nicht bewiesen ist, heißt es ja nicht gleich, das es auch nicht richtig ist. Vielleicht hat sich einfach noch keiner darangemacht, es zu beweisen oder wir haben momentan noch nicht die Möglichkeit, es zu beweisen. Denken Sie zum Beispiel an die Arbeiten der Neurowissenschaften. Einer der größten Vorwürfe, der zum Teil immer noch gegen die Meditation erhoben wird, ist, dass sie unwirksam sei, dass man sie nicht beweisen könne. Langzeitstudien, die in den 1990er Jahren durchgeführt wurden, haben die positiven Auswirkungen der Meditation auf den Körper und die Seele nachgewiesen. Im Hinblick auf Esoterik stellt sich also eher die Frage: Warum halten manche so an der Beweisbarkeit fest?
MS: Ich glaube, das hat etwas mit Angst zu tun. Alles, was jenseits des Weges liegt oder der Gruppe, in der man sich bewegt, verunsichert und wird abgewehrt. Und dann sucht man dafür Wörter, vielleicht auch die falschen, wie z.B. „Esoterik“ oder „psychedelisch“, um etwas abzuwerten. Ich habe mich auch aus ethnologischer Perspektive gefragt, was Esoterik bedeutet. Sogenannte Esoteriker*innen sind Menschen auf der Suche nach einer Religion ohne Dogma. Es sind doch die Individualist*innen, die ihren eigenen Weg suchen und irgendwann bilden sich dann auch Gruppierungen, die manchmal merkwürdige Dinge tun. Es ist vielleicht auch das Versagen dieser Gesellschaft, uns etwas anzubieten, das hilft. Die Religion ist weg, es gibt keinen Ersatz und nicht alle können sich auf das rationale Weltbild beschränken. Diese Menschen suchen dann in anderen Kulturen und anderen Weltbildern, sie suchen aber auch hier in Gemeinschaften vor Ort nach Orientierung.
AP: Es ist eben immer die Krise, die Verzweiflung und die Suche nach dem Weg. Wohin der dann führt, das ist unterschiedlich. Die Gegenüberstellung von Wissenschaft und Esoterik, diese Dichotomie ist ein Konstrukt der deutschen Gesellschaft.
Kerstin Kleemann in ihrer Praxis. Filmstill
WKN: Das Praktizieren ostasiatischer „alternativer“ Medizin in Deutschland muss sich oft dem Vorwurf der kulturellen Aneignung stellen. Ihr habt mit in Heilberufen Praktizierenden aus Frankfurt gesprochen. Austausch oder Aneignung – wie schätzt Ihr diese Kritik ein?
AP: Es gibt schon lange einen Austausch zwischen den verschiedenen Medizinsystemen. Stichworte Migration, lokal - global: alles vermischt sich ‑ schon immer, alles erfindet sich auch neu!
MS: Die westliche Medizin wird ja auch in der ganzen Welt angewendet – natürlich aus dem Zusammenhang kolonialer Strukturen entstanden. Ein Schamane im Amazonasgebiet, vor die Wahl gestellt zu sterben oder sich operieren zu lassen, würde sich auch ans westliche System halten. Man kann sich also entscheiden. Man kann sich auch hier entscheiden! Die von uns interviewte Ayurveda-Spezialistin ist eigentlich Krankenschwester, die Ärztin für chinesische Medizin ist eine im westlichen System ausgebildete Ärztin. Diese Frauen haben sich dann bei Auslandsaufenthalten, bei Spezialist*innen aus anderen Bereichen noch weiteres Wissen draufgeschafft. Sie würden sich nie dem westlichen System verweigern und nutzen z.B. auch westliche Labortechnik. Es geht mehr Hand in Hand.
AP: Und was ist, wenn das Medizinsystem versagt und die Schmerzen bleiben? Dann muss man nach Alternativen suchen. Wenn dann einer merkt, dass er woanders Hilfe bekommt, warum dann also nicht? Dann können diejenigen, die bis dahin mit alternativer Medizin nichts anfangen konnten aus ihrer Verzweiflung heraus ganz neue Wege gehen. Und wer macht diese Kritik überhaupt auf und zelebriert diese Dichotomie? Also woher kommt diese Kritik? Jeder auf der Welt möchte sich wohlfühlen und wenn das der Weg für den einen oder die andere ist, dann ist dieser Weg gut und machbar und sollte gegangen werden.
WKN: Ja, es ist eben verunsichernd, wenn es nicht eindeutig ist, das „Dazwischen“ auszuhalten. Es ist eben weder westlich noch „etwas Anderes“.
AP: Ein anderer Vorwurf ist auch, dass andere Systeme verwestlicht werden. Und das mag ja auch sein. Aber die Systeme an sich werden ja nicht nur in westliche Welten getragen, sondern auch in andere Welten und formieren sich lokal neu.
WKN: Kommen wir nochmal auf Museen zu sprechen. Welche Verantwortung für die Aufarbeitung von Krisen haben Museen? Wie können ethnologische Museen zu healing beitragen? Die Debatte um Rückgaben ist ja omnipräsent. Ist das auch als Akt der Heilung zu verstehen?
MS: Als Teil der Frankfurter Öffentlichkeitsarbeit sind wir dafür da, Themen, die gesellschaftlich relevant sind, aufzubereiten, sodass sie für alle verstehbar werden. Unser Alleinstellungsmerkmal ist, dass wir Objekte in unseren Sammlungen haben, die aus Indigenen Gesellschaften und Migrationskulturen stammen und wir haben die Verpflichtung, die Krisen der Menschen aus diesen Herkunftsgesellschaften zu benennen. Der zweite Strang ist: Was haben wir damit zu tun? Sind wir vielleicht die Ursache dieser Probleme?
Im Weltkulturen Museum sehen wir die Menschen, die hinter den Objekten stehen und versuchen auf eine moralisch möglichst gute Weise mit Menschen und Objekten umzugehen. Und wir beschäftigen uns auch mit Rückgaben. In erster Linie sind wir mit Anforderungen von überall her beschäftigt. Manchmal geht es nur darum, ein digitales Verzeichnis anzulegen, manchmal um konkrete Forderungen nach Ritualgegenständen oder menschlichen Überresten mit dem Ziel der Heilung. Es ist die Verantwortung der Ethnologie und auch der Politik, diese Forderungen anzuerkennen! 2021 mitten im Corona-Lockdown haben die Kulturdezernentin der Stadt Frankfurt und das Weltkulturen Museum ein historisches Lederhemd an den Nachfahren des ursprünglichen Besitzers in der Rosebud Reservation in den USA repatriiert. Dort, bei der Familie und in der Reservation, hat damit ein healing kolonialer Wunden stattgefunden. Ich habe über die Geschichte des Lakaota-Lederhemdes in der Ausgabe 5 der Weltkulturen News berichtet.
Das Dakota-Lederhemd, ehemals Sammlung Weltkulturen Museum. Foto Wolfgang Günzel
AP: Repatriierung ist nur eine Sache mit Symbolkraft, die man tun kann.
MS: Ja, der brasilianische Künstler Ayrson Heráclito bearbeitet in seinen Werken die Wunden, die die Jahrhunderte dauernde Sklaverei in den Amerikas geschlagen und bis heute hinterlassen hat: körperliche Wunden und Verstümmelung, Elend und Hunger, Vergewaltigung, Demütigung, Vereinzelung und Einsamkeit durch das Auseinanderreißen von Familien und allgemein auch Zerstörung von Kultur und Religion. Ayrsons Kunst ist politisch, aber er ist kein Ankläger. Er begibt sich vielmehr in die Rolle dessen, der solche historischen Wunden in Performances zu heilen versucht. Er folgt darin dem Weg der afrobrasilianischen Religion Candomblé, die sich als Religion der Heilung ebendieser Wunden ihrer Gläubigen verschrieben hat.
AP: La Vaugh Belle arbeitet auch in den Werken „Cuts and Burns“ zum Thema Wunden in der Sklaverei. Den Sklav*innen wurden Wunden und Verbrennungen zugefügt. Sie ist in der Folgegeneration und spürt noch die Wunden, Strukturen und Problematiken. Die Wunden sind immer noch da. Auch sichtbar z.B. auf der Insel, auf der sie lebt durch die Plantagen, die wie Furchen in die Landschaft geschnitten sind, oder die Gebäude, die noch an diese Zeit erinnern. Es ist also alles noch da.
WKN: Der Spruch „Die Wunden offen halten“ bedeutet ja auch, den Schmerz nicht zu vergessen.
AP: Ja genau. Also um den Bogen zum Anfang unseres Gesprächs zu schlagen: Auch dieser Prozess ist nicht abgeschlossen, sondern bleibt sichtbar. Es ist ein Prozess. Es gibt eine Vernarbung, dann ist die Wunde „verheilt“, aber sie ist eben immer noch da. Und diese Akzeptanz, dieser Umgang damit, das wirkt sich noch mal in einer ganz anderen Weise aus.
La Vaughn Belle, „Cuts and Burns“. Ausstellungsansicht.
WKN: Abschließend noch eine persönliche Frage: Welche Dinge, Personen, Orte oder Aktivitäten besitzen für Euch heilende Kräfte?
AP: Steine, Reiki, schamanische Sitzungen, Yoga, Freunde, Liebe.
MS: Freunde, Liebe, Wald, Bäche, Seen, das Meer, Sonne und Mond, Regenbogen, auch Gerüche in der Natur, Plätschern, Rauschen oder Vogelgesang, ein Igel, der nachts das Katzenfutter frisst, ein zusammengerolltes, schnurrendes Katzentier oder eine zarte Vogelfeder im Park oder auf der Straße, alles, was mich innehalten lässt, verändert meinen inneren Zustand - und Lachen!
AP: Es gibt unheimlich Vieles was heilend wirkt, und das sollte man vor allem in Krisenzeiten nicht vergessen.
Die Kuratorinnen im Gespräch, Sommer 2022.