PROVENIENZFORSCHUNG: GESCHICHTEN AUS DEM DEPOT
Zum 6. Tag der Provenienzforschung möchten wir einen Einblick in die aktuell am Weltkulturen Museum laufende Forschung bieten. Dazu werden in den kommenden Monaten kleine Beispiel-Provenienzgeschichten vorgestellt.
Die erste Provenienzgeschichte aus der Reihe beginnt mit einem eher ungewöhnlichen Objekt. Ungewöhnlich deshalb, weil es zeigt, dass es bei Provenienzforschung nicht nur um Restitutionen – also Rückgaben an Herkunftsgesellschaften – gehen muss. Provenienzforschung kann auch dazu beitragen, Objekte in einen historischen und regionalen Kontext einzubetten und sie im Rahmen der Geschichte wiederzuentdecken. Objekte, die Jahrzehnte (oder in diesem Fall auch über ein Jahrhundert!) in den Depots des Museums lagern, verlieren manchmal – schlicht und einfach bedingt durch die vergangene Zeit, aber auch durch lückenhafte Dokumentation in den Anfangsjahren der Museumssammlungen – ihren Kontext. Das heißt, wenn wir Provenienzforscher*innen und Ethnolog*innen die Objekte aus ihren Schränken holen, betrachten und die zu ihnen gehörenden Karteikarten lesen, sind wir oft vor Rätsel gestellt. So auch in diesem Fall:
In der digitalen Datenbank des Weltkulturen Museums findet sich ein südafrikanisches Spielzeug, das als ‚Souvenir‘ vermutlich im Jahr 1904 in das Museum kam. Stutzig macht die eingetragene Notiz: „Gefertigt von den Buren im Gefangenenhaus Bellevue“. Ein Spielzeug als Souvenir aus einem Gefängnis? Das liest man nicht alle Tage. Sodann begann die Spurensuche für Josefine Neef (Provenienzforscherin).
Die Spur führte zunächst ins Depot, um das Objekt anzuschauen. Es handelt sich um eine unscheinbare rechteckige Holzkiste, 7 cm hoch, 6 cm breit und 3 cm tief. Eine der schmalen Seiten lässt sich aufschieben; dann springt einem eine hölzerne Schlange entgegen. Anstatt einer Zunge hat sie eine kleine Metallspitze (vermutlich die Spitze einer Stecknadel), die den Öffnenden in den Finger pikst. Die Schlange hat Augen aus Metall und ihr wurden mit violetter Tinte Schuppen aufgemalt. Auf einer Seite des Objekts steht mit schwarzem Stift: „J. M. Brits M. U., Simonstad, 22.11.1900, P of W“. Außerdem trägt das Objekt noch einen Stempel auf dem „Censor Bellevue“ zu lesen ist.
Was war nun dieses ‚Gefangenenhaus Bellevue‘ und warum wurde dort Spielzeug gefertigt? Unter dem Namen Bellevue findet man in Südafrika ein Kriegsgefangenenlager, das im Zuge des 2. Burenkrieges in dem Städtchen Simonstown (in Afrikaans: „Simonstad“) bei Kapstadt errichtet wurde. Buren, so wurden Nachfahren europäischer und insbesondere niederländischer Siedler, die ab dem 17. Jahrhundert im ländlichen Gebieten Südafrikas lebten, bezeichnet. Sie kämpften 1899-1902 gegen britische Streitkräfte, die die britische Kolonialherrschaft in Südafrika ausweiten sollten. Auch hier handelt es sich um einen etwas ungewöhnlichen kolonialen Kontext; schließlich kämpften in diesem Krieg frühe koloniale Siedler (Buren) gegen eine der größten Kolonialmächte (die Briten). Viele von den burischen Kämpfern, die in Gefechten geschlagen wurden oder aufgaben, wurden als Kriegsgefangene (P. O. W. Prisoner of War) verhaftet und in Lager wie Bellevue in Simonstown einquartiert.
Nachdem der Herstellungsort des Spielzeugs geklärt war, drängte sich die Frage auf, was die Inschrift zu bedeuten hat. War J. M. Brits ein Gefangener in Bellevue? Vermutlich ja. Der Stempel auf dem Spielzeugkästchen deutet darauf hin, dass es in diesem Kriegsgefangenenlager gefertigt und vor dem Verlassen des Lagers von den Aufsehern geprüft wurde. Sucht man den Namen Brits in Listen von Kriegsgefangenen aus dem 2. Burenkrieg, findet man viele Treffer. Es handelte sich um einen recht verbreiteten Nachnamen. Die Initialen J. M. helfen dabei, die Ergebnisse auf wenige mögliche Personen einzugrenzen; bisher ist es allerdings noch nicht gelungen herauszufinden, welcher J. M. Brits am 22.11.1900 im Kriegsgefangenenlager Bellevue inhaftiert war. Das Lager wurde im Februar 1900 errichtet und stetig vergrößert. Nach der Schlacht am Paardeberg Ende Februar, bei der sich der burische General Piet Conje und seine Truppe ergaben, wurden 4000 Kriegsgefangene inhaftiert – viele von ihnen kamen nach Bellevue. Das J. M. Brits unter ihnen war, scheint wahrscheinlich.
Im Laufe des Krieges veränderte sich die Rolle des Lagers: Anfang 1901 besuchte eine Art britisches Friedenskomitee das Lager. Diejenigen, die sich den Briten anschlossen und einen Treue-Eid ablegten, blieben in Bellevue bzw. wurden aus anderen Camps nach Bellevue verlegt. Diejenigen, die sich weigerten, den Eid abzulegen, wurden dagegen in Lager auf St. Helena, nach Sri Lanka, Indien oder Bermuda verlegt. Nach Ende des Krieges 1902 wurden die P. O. W., die im Ausland inhaftiert waren, wieder nach Bellevue verlegt, um von dort aus nach und nach freigelassen zu werden. 1903 wurde Bellevue schließlich als eines der letzten P. O. W. Camps des 2. Burenkriegs geschlossen. Ist J. M. Brits auch in ein Lager eines anderen Landes verlegt worden, oder schloss er sich den Briten an und blieb in Bellevue? Die veröffentlichten Listen auf der Webseite des Boer War Museums in Bloemfontein von Kriegsgefangenen geben keinen Hinweis darauf, dass Brits in einem der Lager in St. Helena, Indien oder Bermuda inhaftiert war. Für alle infrage kommenden Personen mit dem Namen J. M. Brits liegen entweder keine weiteren Informationen vor, oder sie wurden in anderen südafrikanischen Lagern in Südafrika registriert.
Wie kam ein burischer Kriegsgefangener dazu, Spielzeug herzustellen? Das Schnitzen begann in den britischen Kriegsgefangenenlagern wohl zunächst als Zeitvertreib gegen die Langeweile. Das Material fanden die Gefangenen im Lager selbst. Sie verarbeiteten zum Beispiel Nägel, Tierknochen, Konservendosen oder auch die Holzplanken, die eigentlich den Boden ihrer Zelte bildeten. Aus dem Zeitvertreib entwickelte sich im Laufe des Krieges eine richtige Industrie. Geschnitzte Spielzeuge, Modelle und Möbel aus den Lagern wurden gegen Lebensmittel eingetauscht und sogar in den Nachbarstädten zum Verkauf angeboten. In den Lagern in Bermuda gründete sich die „Industrial Association for Carvings and Curios“, die so erfolgreich bei der Vermarktung der Schnitzereien war, dass diese schnell ihren Weg in nordamerikanische und europäische Kuriositäten-Geschäfte fanden. Im 1. Weltkrieg entwickelte sich der Begriff Trench Art, um von Soldaten und Kriegsgefangenen hergestellte Werke zu betiteln. Die Beliebtheit dieser „Trench Art“ in Europa erklärt vermutlich auch, wie das Objekt als ‚Souvenir‘ nach Frankfurt kam. Aus unseren Inventarbüchern kann man entnehmen, dass eine Frau M. Borgnis das Objekt 1904 als Geschenk an das Museum gab – wahrscheinlich hatte sie es selbst zuvor in einem Kuriositäten-Geschäft gekauft.
Doch handelt es sich nur um einen lustigen Scherzartikel? Wenn man von der kleinen Schlange in den Finger gepikt wird, erschrickt man leicht – und vermutlich ist diese Belustigung der Hauptzweck des Objektes. Allerdings wurden solche als ‚Slangdosies‘ (Schlangenkisten) bezeichneten Objekte auffällig oft von den Buren in britischer Kriegsgefangenschaft hergestellt. Laut Victoria Heunis könnte die Schlange als Symbol – sinnbildlich für Hinterhältigkeit und den Teufel – hier auch als das britische Empire gelesen werden. In etwa: ‚Die Briten verstecken sich und greifen dich aus dem Hinterhalt an‘. Andere deuten die Schlange auch als Symbol für die im späteren Verlauf des Krieges von den Buren verfolgten Guerilla-Taktiken. Beide Erklärungen könnten die Beliebtheit des Schlangenmotivs unter den Kriegsgefangenen erklären. Andererseits scheinen sich diesen Schlangenkisten auch später und anderswo größerer Beliebtheit erfreut zu haben – darauf weist eine weitere, als „typischer Touristenartikel“ in den 1950er-Jahren in die Sammlung des Weltkulturen Museums aufgenommene Variante einer Schlangenkiste aus Kenia hin. Die kleine Schlangen-Dose, die zunächst so unscheinbar wirkt, kann also einiges an Geschichte erzählen. Sie ist ein symbolträchtiges Spielzeug mit politischem Hintergrund, das als Souvenir nach Frankfurt kam und von einem Kriegsgefangenen in einem südafrikanischen Lager nahe Kapstadt angefertigt wurde, vermutlich um damit seine Finanzen aufzubessern oder sich die Zeit zu vertreiben. Die Geschichte der Schlangendose ist nur eine von vielen Provenienzgeschichten, die hier am Weltkulturen Museum (wieder) entdeckt werden können. In den kommenden Monaten werden wirnoch andere Objekte und ihre Geschichten vorgestellt bekommen.
Literaturnachweise:
Sanders, Nicholas J. (2003) Trench Art – Materialities and Memories of War. Oxford/ New York: Berg.
Bossenbroek, Martin (2016) Tod am Kap – Geschichte des Burenkriegs. München: C. H. Beck.
Witz, Leslie, Rassol, Ciraj und Gary Minkley (2000) The Boer War, Museums and Ratanga Junction, the Wildest Place in Africa: Public History in South Africa in the 1990s. In: Basler Afrika Biografien, 10 (2).
Eberspächer, Cord (2003) „Albion zal hier ditmaal zijn Moskou vinden!“ Der Burenkrieg (1899-1902). In: Klein, Thoralf und Frank Schumacher (Hrsg., 2003) Kolonialkriege: militärische Gewalt im Zeichen des Imperialismus. Hamburg: Hamburger Edition, S. 182-207.
Coombes, Annie E. (2006) Rethinking settler colonialim: history and memory in Australia, Canada, Aotearoa New Zealand and South Africa. Manchester: Manchester University Press.
Goldin, Ian (1987) Making race: the politics and economics of coloured identity in South Africa. London: Longman.
Online zugängliche Quellen:
Website des War Museums in Bloemfontein, Südafrika: https://wmbr.org.za/prisoners-of-war/
Forum und Datenbank zum 2. Burenkrieg: https://www.angloboerwar.com/
Changuion, Louis Annis (1996) Die Lewe in die Suid-Afrikaanse Boerekrygsgevangenekampe tydens die Anglo-Boereoorlog, 1899-1902. In: South-African Journal of Cultural History 10 (2), 55-71. Online verfügbar unter https://journals.co.za/doi/pdf/10.10520/AJA10113053_187; zuletzt geprüft 08.04.2024.
Heunis, Victoria Regina (2019) Anglo-Boereoorlog Boerekrygsgevangenekuns, 1899-1902. Dissertationsschrift: University of Pretoria. Online zugänglich unter https://repository.up.ac.za/bitstream/handle/2263/76857/Heunis_Anglo_2019.pdf?sequence=1o_2019.pdf (up.ac.za); zuletzt geprüft 08.04.2024.
Falls euch die Themen Burenkrieg, Trench Art oder die Geschichte Südafrikas interessieren - die vorliegenden Bücher sind übrigens auch in der Bibliothek des Weltkulturen Museums für euch zugänglich. Kommt also gerne zum Stöbern vorbei!