PROVENIENZGESCHICHTEN -EINE SPURENSUCHE IM INTERNET

Einblicke in die Forschung am Weltkulturen Museum

Provenienzforschung zu ethnografischen Objekten findet oft in Archiven oder Bibliotheken statt, wo historische Dokumente wie Briefe, Zeitungsartikel und Kirchenbücher aufbewahrt werden. Doch die zunehmende Digitalisierung eröffnet neue Möglichkeiten, um den Weg von Objekten ins Museum aufzudecken. Dieser Text aus der Serie „Provenienzgeschichten“ vollzieht die digitale Spurensuche von Josefine Neef, Provenienzforscherin am Weltkulturen Museum, zur Geschichte einer Sammlung nach:

1928 übergab ein gewisser „Major von der Hellen“ aus Oldenburg etwa 50 Objekte aus Deutsch-Neuguinea an das heutige Weltkulturen Museum. Dabei handelt es sich um Alltagsgegenstände, wie Kämme und Taschen aber auch um Schmuck, Waffen und eine Tanzmaske. Weitere Details zu dem Geber und den Objekten waren im Inventarbuch des Museums jedoch nicht angegeben. Wer war dieser Major aus Oldenburg? Wie ist er an die Objekte gekommen und wie kam es dazu, dass er sie dem Weltkulturen Museum in Frankfurt überreichte? Die Karteikarten, die damals zu jedem neu aufgenommenen Objekt angelegt wurden, boten leider wenig nützliche Informationen. Da ich keine weiteren „analogen“ Informationsquellen zu diesem Sammler fand, begab ich mich auf die Suche in digitalen Archiven.


Das Bundesarchiv (invenio.bundesarchiv.de) hat viele Akten des Reichskolonialamts, das für die Verwaltung der deutschen Kolonien zuständig war, online gestellt. Dort fand ich jedoch keinen Eintrag zu „von der Hellen“. Also änderte ich meine Strategie. Bei Recherchen zu anderen Sammler*innen fand ich oft Hinweise in kolonialzeitlichen Adressbüchern. Diese Suche kann zeitaufwendig sein, wenn man vor Ort in der Bibliothek oder im Stadtarchiv die einzelnen Bücher durchblättern muss. Glücklicherweise wurden einige Oldenburger Adressbücher der 1920er und 30er Jahre von Freiwilligen des Vereins für Computergenealogie digitalisiert. Im Adressbuch von 1927 fand ich „v. d. Hellen, Carl; Pol(izei?)-Major“. Im Jahr 1938 war er „Pol.-Oberstleutnant außer Dienst“. Ich musste daran denken, dass damals auch in den Kolonien viele Polizeikräfte tätig waren. Karl war jedoch als Teil des „Oldenburger Infanterieregiments Nr. 91“ verzeichnet und damit wahrscheinlich nie im Ausland stationiert. Da „von der Hellen“ kein häufiger Name ist, war ich mir dennoch einigermaßen sicher, den gesuchten Major gefunden zu haben, der die Objekte nach Frankfurt gebracht hatte. Doch wie kam er an die Objekte aus Ozeanien, wenn er nie im Ausland gelebt hatte?

Hier half wieder der Verein für Computergenealogie: In einer ihrer Datenbanken fand ich „Carl Bruno Edmund von der Hellen“ (genannt Carl), geboren 1879 in Rotterdam und Leutnant der Gendarmerie (historischer Begriff für Polizei). Er starb 1969 in Oldenburg. Carl hatte einen Bruder namens Eduard Carl Diederich (genannt Eduard), geboren 1875, gestorben 1919. Eduard war als Regierungsarzt tätig. Ich wusste, dass viele Ärzte sich Anfang des 20. Jahrhunderts mit Tropenmedizin beschäftigt hatten und dafür teilweise Jahre in den Kolonien verbracht hatten. Gehörte Eduard vielleicht auch dazu?

Über weitere Umwege fand ich dann heraus, dass Eduard von der Hellen 1904 als Schiffsarzt auf einem Postschiff des Norddeutschen Lloyd, der „Prinz Waldemar“, gearbeitet hat. Dieses Schiff pendelte bis 1919 regelmäßig zwischen Hongkong und Australien und machte Halt an mehreren ozeanischen Inseln. Die Postschiffe transportierten nicht nur Post, sondern auch Passagiere in die Kolonien. Während der Aufenthalte im Hafen hatten Schiffsärzte wie Eduard Gelegenheit, vor Ort Objekte zu erwerben. Es gibt auch Berichte, dass Indigene in Booten nahe an die Schiffe heranruderten, um Objekte zum Tausch oder Kauf anzubieten.

In der Datenbank des Bundesarchivs lässt sich auch der Fahrplan der Schiffe des Norddeutschen Lloyd auf der sogenannten Zweiglinie Singapore-Sydney aus dem Jahr 1904 finden. Demnach hielt der Dampfer Prinz Waldemar an sieben Orten im Gebiet der Kolonie Deutsch-Neuguinea. Und tatsächlich übergab von der Hellen dem Museum Objekte von jeder dieser Stationen. Allerdings übergab von der Hellen auch Objekte von anderen Orten. Vielleicht hielt er sich selbst länger in der Kolonie auf, oder die Objekte wurden zuvor zwischen den Inseln gehandelt und an den großen Häfen zum Verkauf oder Tausch angeboten.

Inwiefern solche Handelsgeschäfte von Boot zu Schiff und an den Häfen fair abliefen, ist heute schwer zu sagen. Zeitgenössische Berichte sprechen sowohl von freundlichen Preisverhandlungen als auch von Zwang, Einschüchterung und Gewalt. Der Missionar Albert Hoffmann, der zur gleichen Zeit wie Eduard von der Hellen auf der „Prinz Waldemar“ war, berichtet in seinen Lebenserinnerungen*, dass Indigene frisches Obst und andere Lebensmittel an das Schiff verkauften. Er beschreibt nicht im Detail, wie diese Verkäufe abliefen und erwähnt weder ethnografische Objekte noch den Schiffsarzt von der Hellen. Wie genau Eduard von der Hellen an die Objekte vom Bismarck-Archipel, den Salomonen und Neuguinea kam und welche Rolle seine Position spielte, bleibt im Detail weiter unklar. Eine Forschungsgruppe des Deutschen Schifffahrtsmuseums in Bremen (Forschungsprojekt NDL) untersucht derzeit die Kolonialgeschichte der Postschifffahrt und des Norddeutschen Lloyd. Wenn deren Forschungsergebnisse zugänglich gemacht werden, finden sich möglicherweise weitere Puzzleteile der Spurensuche, die darüber Auskunft geben wie Eduard von der Hellen an die Objekte gelangte.

Auch wenn dieses Rätsel noch nicht gelöst ist, so zeigt der Fall, dass die Digitalisierung historischer Dokumente und die Vernetzung von Archiven und Datenbanken online in jedem Fall ein großer Gewinn für die Provenienzforschung ist!

Literatur zur Kolonialzeit in Ozeanien, Sammeln und Handeln sowie zu digitaler Provenienzforschung findet ihr auch in der Bibliothek des Weltkulturen Museums. Hier sind ein paar Vorschläge zum Stöbern:

Fischer, Hans. Die Hamburger Südsee-Expedition: über Ethnographie und Kolonialismus. Syndikat Autoren- und Verlags-Ges.: 1981.

Hahn, Hans Peter, Lueb, Oliver, Müller, Katja und Karoline Noack. Digitalisierung ethnologischer Sammlungen. Perspektiven aus Theorie und Praxis. Transcript: 2021.

Hinz, Hans-Martin (Hrsg.) Das Museum als Global Village: Versuch einer Standtortbestimmung am Beginn des 21. Jahrhunderts. Peter Lang: 2001.

Kludas, Arnold. Die Schiffe der deutschen Afrika-Linien: 1880-1945. Stalling: 1975.

Krämer, Augustin. Die Reise der S.M.S. „Planet“ 1906/1907. In: Historische Schifffahrt. Band 131. Siegismund Verlag: 2010 (1909).

Müller, Katja. Digital archives and collections: creating access to cultural heritage. In: Athropology of media. 2011: Vol. 11.

Nicholas, Thomas. Entangled objects: exchange, material culture, and colonialism in the Pacific. Havard University Press: 1991.

O’Hanlon, Micheal E. und Robert L. Welsch (Hrsg.) Hunting the gatherers: ethnographic collectors, agents and agency in Melanesia, 1870s-1930s. Berghan Books: 2000.

* die Lebenserinnerungen des Missionars Albert Hoffmann kann man in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt digital einsehen. Online verfügbar sind sie derzeit nicht.


Bildnachweise:

Kolonialzeitliche Bildpostkarte von „Prinz Waldemar“

Provenienzforscherin Josefine Neef, Foto: Wolfgang Günzel 

Weltkulturen Museum, Inventarbuch Bd. 15, S. 75 Eintrag zu v. d. Hellen