WILLKOMMEN IN MEINER REALITÄT

12.05.2020

In den vergangenen Jahren hat das Weltkulturen Museum unterschiedliche indigene und afrobrasilianische Aktivist*innen aus Nord- und Südamerika eingeladen. Amerika-Kustodin Mona Suhrbier berichtet über die Besuche und die Zusammenarbeit.

Als Aktivist*innen gelten Menschen, die sich öffentlich und mit großem persönlichem Engagement für eine besonders wichtige Sache einsetzen: die Umwelt (Greenpeace), Bürger- und Menschenrechte (Amnesty International), Rechte von Tieren (Animal Rights Watch) u. v. m. International berühmt geworden sind u. a. der Bürgerrechtler Martin Luther King und die Sozialaktivistin Angela Davis, beide aus den USA; aus Südamerika kennt man die guatemaltekische Menschenrechtlerin Rigoberta Menchú Tum und aus Europa die junge schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg. Mit letzterer teilt sich im Jahr 2019 Davi Kopenawa Yanomami, der indigene brasilianische „Dalai Lama des Regenwaldes“, Umweltaktivist, Anführer und Schamane, neben anderen den Alternativen Nobelpreis „Right Livelihood“.

Die Bandbreite des medialen Ausdrucks von Aktivismus ist nicht auf Petitionen, Vorträge oder Demonstrationen beschränkt. Auch politisch motivierte Bildende Kunst, Performance, Film, Poesie und Musik eignen sich zur Weitergabe kritischer Botschaften. Im Weltkulturen Museum waren in den vergangenen Jahren einige ganz unterschiedliche Aktivist*innen aus den beiden Amerikas zu Gast und haben in der Frankfurter Stadtgesellschaft für ihre jeweiligen Anliegen ein interessiertes Publikum gefunden. Unter ihnen waren politische Anführer*innen, Künstler*innen und Rap-Musiker, die ihre jeweiligen Themen auf individuelle Weise vorgetragen haben.

Politischer Kampf und Kunst
Für die 2018 verstorbene Künstlerin Shan Goshorn, Eastern Band Cherokee aus den USA, war die eigene indigene Herkunft ein wichtiger Bezugspunkt ihres politischen Kampfes und ihrer Kunst. Politisch kämpfte die Künstlerin für indigene Eigenständigkeit, Rückführung von Kulturgut, gegen Genozid und Gewalt, insbesondere an Frauen und Kindern. Ihre kritischen Werke stellt die Korbflechterin in den Dienst der persönlichen und kollektiven Erinnerung an die traumatische Geschichte der Native Americans in den USA. Als Gastkünstlerin in der Ausstellung „Der Rote Faden. Gedanken. Spinnen. Muster. Bilden“ im Weltkulturen Museum präsentiert Shan Goshorn 2016 einige farbige Körbe, aus Papierstreifen geflochten und mit besonderen Mustern aus Schriftzügen, Fotos und geometrisch-abstrahierten Formen. Ihre Werke enthalten Ehrung und Protest. In „We Are Them“ (2015), acht Miniaturkörbe mit Frauenporträts, verewigt die Künstlerin in Archiven vergessene historische Fotos westlicher Fotografen von US-amerikanischen indigenen Frauen und Mädchen. Ein anderes Werk zur Kritik am Internatssystem in den USA erinnert an das Schicksal von Shans Großmutter, die wie viele andere indigene Kinder in ein staatliches Internat gezwungen wurde, wo sie fern von den Eltern in das westliche System hineinwachsen sollte. Abwechselnd flicht die Künstlerin die Namen von indigenen Internatsschüler*innen sowie den Text eines Cherokee-Erinnerungslieds in den Korb mit dem Titel „Embracing the Precious“ (2015). Wie in einer Umarmung umgibt der Liedtext die Namen der Kinder, spendet endlich Trost, macht das Leiden unvergessen und hilft, ein generationsübergreifendes Trauma zu überwinden.

Das Trauma der Sklaverei
Die Erinnerung an den fast 500 Jahre dauernden transatlantischen Sklavenhandel und an das Trauma der Sklaverei in Brasilien bearbeitet der afrobrasilianische Künstler und Wissenschaftler Ayrson Heráclito 2017 in der Ausstellung „Entre Terra e Mar. Transatlantische Kunst“. Ziel seiner kritischen Kunst ist, historische Wunden der Menschheit durch die Kraft der Erinnerung zu transformieren und zu heilen, ohne anzuklagen. In der Performance „Die Verwandlung des Fleisches“, aufgeführt 2018 im Metzlerpark hinter dem Weltkulturen Museum, macht Ayrson Heráclito die in der Vergangenheit praktizierten, historisch verbrieften körperlichen und seelischen Gräuel an Sklav*innen auch für Zuschauende unmittelbar sinnlich nachvollziehbar. Der Künstler kleidet eine Prozession aus freiwilligen Teilnehmer*innen in aus Trockenfleisch genähte Oberteile und setzt darauf mit einem heißen Eisen Brandzeichen auf. „Erinnerung an Missbrauch und Sklaverei. […] Der Körper, gebrandmarkt von dieser Vergangenheit. […] halb Fett, halb Fleisch – Metapher für die Körper der Sklaven. Die Versklavung der Schwarzen hat der ganzen Welt Schmerz und Wunden zugefügt und betrifft uns alle. Alle sind eingeladen: Ein glühendes Eisen auf der Haut. Erweckt uralte Erinnerungen. Geruch, Geräusch, Qualm – die Wunde muss durch Kunst verwandelt werden...“ (Ayrson Heráclito).


Die Dokumentation der Performance „Die Verwandlung des Fleisches“ in einer Kooperation des Weltkulturen Museums mit der Hochschule Mainz:



Vertreibung und Völkermord an den indigenen Guarani
Sechs Aktivist*innen besuchen das Weltkulturen Museum in den Jahren 2017, 18 und 19, um auf Vertreibung und Völkermord an den indigenen Guarani in Brasilien aufmerksam zu machen. Im Bundesstaat Mato Grosso do Sul, wo das Volk der Guarani Kaiowá nahezu vollständig von agroindustriellen Großgrundbesitzern vom angestammten Land vertrieben wurde, drängen sich inzwischen über 40.000 Kaiowá in Slums, neben Großfarmen oder in Camps entlang der Landstraßen und Autobahnen. Ihre Versuche, auf ihr Land zurückzukehren, beenden bewaffnete Großgrundbesitzer mit Gewalt. In der Nähe der Metropolen São Paulo und Rio de Janeiro sind Guarani von Urbanisierung, Straßenbau und Immobilienspekulation bedroht. Als Tagelöhner*innen sind sie überall ohne regelmäßiges Einkommen und ohne Land fehlt die Möglichkeit zur Selbstversorgung. Der indigene Anführer und studierte Geschichtswissenschaftler Ládio Veron, Guarani Kaiowá aus Mato Grosso do Sul, bereist 2017 zehn europäische Länder, trifft Politiker*innen, NGOs, Kirchenvertreter*innen, Journalist*innen und hält Vorträge für die Öffentlichkeit. Im Weltkulturen Museum spricht Ládio Veron von alltäglichen Ermordungen von Kindern und Erwachsenen und von systematischen Tötungen indigener Anführer*innen. Er fasst die Situation zusammen: „Die Milizen der Großgrundbesitzer kommen, schießen und töten“. Auf diese Weise wurde auch Ládio Verons Vater im Jahr 2003 in einem Streit um Land ermordet. Die für Indigene oft tödlichen Auseinandersetzungen setzen sich bis heute fort.

Diskriminierung von indigenen Frauen
Die Schulleiterin Alenir Ximendes und die Gesundheitsbeauftragte Janete Alegre, beide Anführerinnen der Guarani Kaiowá-Frauenorganisation „Kuñangue Aty Guasu“, reisen 2019 durch drei europäische Länder. Sie berichten über Menschenrechtsverletzungen im Gebiet der Kaiowá und bitten um internationale Aufmerksamkeit und Hilfe. Im Weltkulturen Museum prangern sie Themen an, die besonders Frauen betreffen: sexualisierte Gewalt, Diskriminierung und Misshandlungen im staatlichen Gesundheitswesen, insbesondere bei der Geburtshilfe. Sie berichten auch über die Schönheit ihrer Kultur und ihren Kampf um deren Erhalt. Sie sagen: „Das Land ist unser Leben, unsere Identität, unser Erbe“.

Kritisch und politisch: indigener Rap im Museum
Drei junge indigene Rap-Musiker, die Brüder Bruno und Clemerson Veron von der Gruppe Brô MCs aus Mato Grosso do Sul sowie Wera MC aus São Paulo besuchen 2018 anlässlich der Ausstellung „Entre Terra e Mar.“ das Weltkulturen Museum. Sie geben Konzerte, treten gemeinsam mit Frankfurter Rappern auf und diskutieren mit Student*innen. Sie treten auf wie Krieger, fordern in ihren kritisch-politischen Songtexten die Rückgabe des Landes der Guarani und prangern schlechte Lebensbedingungen an: „Wir sind mehr als 15.000 – Zusammengepfercht im Reservat, während die Gutsbesitzer – Unser Land besetzen – Einheimischer Kämpfer, Erbe von Brasilien […] – Der weiße, feindselige Mann, der tötet und massakriert“ (Brô MC’s; Song „Humildade“). Die Rapper wollen ein selbstbestimmtes Leben führen, wollen anders sein als die Weißen, wollen indigene Lebensweisen und Weltsichten als Teil des modernen Lebens in Brasilien fortführen. Die neue musikalische Kunstform des Rap ist Teil einer Bewegung junger engagierter Guarani, die ihre Themen in eigenen Worten einer größeren Öffentlichkeit präsentieren und rappen: „Willkommen in meiner Realität“. Darin möchten auch sie mit Stolz die Schönheit und Würde ihrer Kultur zeigen. „Mein Land ist kein Staub – Mein Gold ist der Lehm, auf dem ich laufe und auf dem ich pflanze … “ (Brô MCs; Song „Tupã“; Übersetzungen Arno Holl und Maike Wiechert). 


Bio 

Dr. Mona B. Suhrbier studierte Ethnologie in Frankfurt und Marburg. Seit 1990 ist sie Kustodin der Abteilung Amerikas. Sie beschäftigt sich mit Fragen der Gegenwart in der Ethnologie, mit indigenen Landrechten im Amazonasgebiet, mit Dekolonisierung und Sklaverei sowie mit Kultur, Religion und Kunst. Sie arbeitet mit zahlreichen indigenen Partnern sowie mit internationalen Künstlern zusammen und sammelte für das Museum zeitgenössische indigene und afrobrasilianische Kunst. Sie realisierte Ausstellungen, Kataloge, Veranstaltungen und wissenschaftliche Beiträge sowie drei Filme: über die Religion Candomblé in Salvador da Bahia und über den Besuch indigener brasilianischer Rappgruppen in Frankfurt. Sie machte Feldforschung u. a. bei Guarani in Brasilien und hatte Lehraufträge an den Universitäten in Marburg, Frankfurt und São Paulo (USP).

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