Invisible Inventories. Zur Kritik kenianischer Sammlungen in westlichen Museen
Diese Einleitung aus dem Magazin „Invisible Inventories. Zur Kritik kenianischer Sammlungen in westlichen Museen“ gibt einen Überblick über die Arbeit des International Inventories Programme.
Das Magazin kann hier bestellt werden.
Das International Inventories Programme (IIP) ist ein künstlerisches, wissenschaftliches und kuratorisches Projekt, das einen Korpus kenianischer Kulturgüter untersucht, die in Institutionen im globalen Norden aufbewahrt werden. Das Projekt erweitert den seit 2017 an Dynamik gewinnenden Restitutionsdiskurs, indem afrikanische Perspektiven verbreitet werden, die in internationalen Diskussionen kaum vertreten sind.
Das von Künstler*innen initiierte und über drei Jahre (2018–2021) entwickelte IIP vereint eine Konstellation kultureller Akteur*innen: die National Museums of Kenya, das Rautenstrauch-Joest-Museum, das Weltkulturen Museum sowie die Kollektive The Nest und SHIFT.
Das Projekt strahlt in zwei Richtungen: sowohl von Nairobi, Kenia, aus, als auch nach Nairobi zurück. Wir bauen eine öffentlich zugängliche Datenbank dieser Objekte auf und setzen uns somit für mehr Transparenz in den Archiven der Museen ein. Am 29. September 2020 enthält die Datenbank Informationen zu 32.321 Objekten, die in Museen außerhalb Kenias aufbewahrt werden.1 Gleichzeitig haben wir die sogenannten „Object Movement Dialogues“ initiiert, eine Reihe von Events, die den öffentlichen Diskurs über kritische Objektgeschichten, ihre oft gewaltsam initiierte Bewegung über Grenzen hinweg und deren weitreichende Konsequenzen anregen. Wie unsere Kollegin Njoki Ngumi in einem dieser Dialoge fragte: „Wer sind die Menschen, die das Objekt zurückgelassen hat? Und wenn das Objekt zu einem Volk zurückkehren soll, dem es gestohlen wurde, wer sind dann die Menschen, denen das Objekt begegnet?“2
„Invisible Inventories“ ist das Ausstellungsprojekt des International Inventories Programme. Es wird in den National Museums of Kenya in Nairobi, im Rautenstrauch- Joest-Museum in Köln und im Weltkulturen Museum in Frankfurt am Main präsentiert. Die Ausstellung setzt sich kritisch mit der wissenschaftlichen und künstlerischen Forschung auseinander, die in den letzten zwei Jahren von unserer heterogenen Gruppe von Museumsfachleuten, Wissenschaftler*innen und Künstler*innen mit ihrem jeweils eigenen Hintergrund, ihrem Fachwissen, ihren eigenen Handlungsweisen und ihrem spezifischen Vokabular durchgeführt wurde. “Invisible Inventories” versucht, diese unterschiedlichen Positionen zu erhalten, anstatt sie einzuebnen. Unsere Hoffnung ist es, dass uns diese Diversität an Perspektiven, ästhetischen Praktiken und formalen Ausdrucksformen dabei helfen wird, die Komplexität der Themen rund um die Geschichte der Objekte und ihre Restitution inmitten der Nachwirkungen des Kolonialismus anzusprechen.
Deswegen sollte das Verb im englischsprachigen Untertitel der Ausstellung („questioning“, also das kritische Hinterfragen kenianischer Sammlungen in westlichen Museen) im Kontext seiner semantischen Geschwister gelesen werden: beschlagnahmte Objekte einfordern, sie sich vorstellen, neu imaginieren, sie auspacken, sie befreien. Dieses Spektrum von Absichten verweist auf eine Konstellation verwandter, aber unterschiedlicher Positionen innerhalb unserer Gruppe. Unser konsensbasierter Arbeitsprozess blieb selten ohne Diskussion - weder frei von Machtgefällen noch Unbehagen. Eine ganze Reihe von Ideen ist aufgeblüht, während andere verblasst sind, und unsere Positionen innerhalb der Gruppe haben sich im Laufe der Zeit ebenfalls geändert. In diesem Sinne haben wir beschlossen, eine Idee in diese Veröffentlichung aufzunehmen, die nicht verwirklicht werden konnte: und zwar eine kollektive Reflexion über unser Bestreben, zusammenzuarbeiten, das, was wir als „den Prozess“ bezeichneten – vielleicht ein Versprechen für zukünftige Unternehmungen und für die Zerbrechlichkeit und Kraft von Ideen.
Seit Jahrzehnten lagern Hunderte kenianischer Objekte in aller Stille (oder vielleicht in aller Unruhe) in den Museumslagern des Rautenstrauch-Joest-Museums in Köln und des Weltkulturen Museums in Frankfurt am Main. Die meisten von ihnen wurden noch nie öffentlich ausgestellt. Die Museumsexpert*innen unserer Gruppe (Njeri Gachihi, Frauke Gathof, Clara Himmelheber, Lydia Nafula, Leonie Neumann, Philemon Nyamanga und Juma Ondeng’) haben begonnen, für einige dieser
Artefakte sogenannte Objektbiografien zusammenzustellen, von denen wir hier eine Auswahl präsentieren. Zudem geben sie einen Einblick in die Art und Weise ihrer kollaborativen Prozesse innerhalb von IIP. Lydia Nafula und Philemon Nyamanga teilen darüber hinaus Auszüge aus dem Bericht ihrer Exkursion im November 2019 an die kenianische Küste, in dem sie bewerten, wie verschiedene Gemeinschaften vergangene und gegenwärtige Bedrohungen ihres kulturellen Erbes wahrnehmen. Schließlich führen uns Leonie Chima Emeka und Niklas Obermann ein in die Detektivarbeit der Provenienzforschung zu einem kenianischen Objekt im Rautenstrauch-Joest-Museum.
Die Künstler*innen und Forscher*innen unserer Gruppe geben einen Einblick in ihre verschiedenen Ansätze im Umgang mit diesen Objekten und ihrer Abwesenheit. Das Kollektiv The Nest (Jim Chuchu und Njoki Ngumi) reflektiert den laufenden Prozess der Zusammenstellung der Datenbank kenianischer Objekte im Norden und die damit verbundenen Herausforderungen und Fragen. Sam Hopkins und Marian Nur Goni stellen den Leser*innen den Podcast und die Klanginstallation vor, den sie zu den vielfältigen Geschichten über die Menschenfresser von Tsavo produzieren – die beiden legendären, derzeit in Chicago ausgestellten Löwen, die manche wieder zurück nach Kenia holen möchten. Sam Hopkins und Simon Rittmeier formulieren in ihrem gemeinsames Projekt Topography of Loss einen Versuch, die Abwesenheit dieser Objekte aus Kenia in poetischer Weise zu kartieren. Im Gegenzug erweitert Simon Rittmeier mit seinen Werken Takeover und Lightning Strikes the Obelisk den geografischen Untersuchungsbereich der Ausstellung. Schließlich versammeln sich alle Teilnehmer*innen zu einer Diskussion über Vertrauen und was dies im Kontext eines derartigen Projektes bedeuten kann.
Diese ,Insider‘-Perspektiven werden durch einige Artikel und Interviews sowohl von etablierten Stimmen im Museumsbereich als auch von jüngeren, aufstrebenden Praktiker*innen erweitert. George Abungu kontextualisiert aktuelle Diskussionen zur Restitution innerhalb der umfassenderen Frage nach der Rolle des Museums im 21. Jahrhundert, während Jimbi Katana detaillierte Einblicke in die Manifestation von Bedenken in den Mijikenda-Gemeinschaften bezüglich der Rückführung von vigango bietet. Chao Tayiana Maina eröffnet schmerzhafte Parallelen zwischen dem Fehlen von Objekten und dem von Archivdokumenten, während Jacky Kwonyike ein spekulatives Plädoyer für die Rückgabe eines bestimmten Objekts aus Großbritannien hält. Diese zusätzlichen Perspektiven ergänzen und bereichern die vielfältigen Positionen innerhalb der IIP-Gruppe und verkörpern unsere Idee für diese Veröffentlichung als autonome Manifestation des Ausstellungsprojekts “Invisible Inventories”. Eine weitere Veröffentlichung, ein Reader, ist für Ende 2021 geplant.
Dieser basiert auf bearbeiteten Transkripten der „Object Movement Dialogues“ und neu veröffentlichten Dokumenten aus den 1960er- und 1970er-Jahren, die den breiteren historischen Kontext dieser Debatten und Gesten des kulturellen Erbes in der Region belegen. Bei dem Versuch, die fragmentierten Biografien von Objekten darzustellen und infrage zu stellen, zeugen die Kunstwerke und Forschungsergebnisse dieser Ausstellung von den schmerzhaften und dauerhaften Hinterlassenschaften des Kolonialismus, sowohl in Europa als auch in Afrika. Der Prozess zu versuchen, sie zusammenzusetzen und kritisch zu reflektieren, hatte seine Stärken und Schwächen, seine wertvollen Momente und Herausforderungen. Es ist Teil eines offenen, vielstimmigen Gesprächs, das entschieden auf eine neue, gerechte und antirassistische Zukunft abzielt.
1 Siehe den Artikel von The Nest in dieser Publikation.
2 Dies geschah während des „Object Movement Dialogue“ Nr. 3 am 4. September 2019 im Kölner Rautenstrauch-Joest-Museum.